Kacheltalk: Neurodiversität aus weiblicher Perspektive – Wissenschaft trifft Praxis der Jugendsozialarbeiter Veranstaltung

Neurodiversität aus weiblicher Perspektive – Wissenschaft trifft Praxis der Jugendsozialarbeit

Die Online-Veranstaltung „Kacheltalk: Neurodiversität aus weiblicher Perspektive – Wissenschaft trifft Praxis der Jugendsozialarbeit“ am 3. Juli 2025 widmete sich dem bislang vernachlässigten Thema Neurodiversität bei Mädchen*, jungen Frauen* und queeren Jugendlichen im Kontext von Jugendsozialarbeit. Ziel war es, Impulse für eine differenziertere, geschlechtersensible und inklusionsorientierte Praxis zu geben und intersektionale Perspektiven stärker zu verankern. Daher lag der Fokus der Veranstaltung auf der Frage, wie Jugendsozialarbeit gendersensibel und bedarfsgerecht auf neurodivergente Mädchen* und junge Frauen* eingehen kann wie auch die Bedarfe und Herausforderungen neurodiverser weiblicher* Fachkräfte gesehen und berücksichtigt werden können.

Die Präsentation der gesamten Veranstaltung finden Sie rechts im Downloadbereich, ebenso wie die beiden Vorträge je einzeln.

Vortrag Christine Schubart

Christine Schubart (YES Innovation & Research e.V.), Leiterin des transnationalen EU-Projekts NeuroDiversity from a Female Perspectiveund Mitglied des BAG EJSA Fachbeirats Mädchen*sozialarbeit (M*SA) der BAG EJSA, gab einen fundierten Einblick in aktuelle Forschung und Praxisbezüge. Das Projekt wird von einem europäischen Konsortium getragen – u. a. mit Partnern aus Spanien, Griechenland, den Niederlanden und Deutschland – und widmet sich gezielt den Bedarfen neurodivergenter Mädchen* und junger Frauen*. Dabei wird insbesondere auf Autismus und ADHS fokussiert, da deren Ausprägungen bei weiblichen Jugendlichen oft weniger sichtbar und seltener diagnostiziert werden. Das führt zu unzureichender Unterstützung im Alltag und in pädagogischen Kontexten.

Christine Schubart stellte die zu entwickelnden Projektprodukte wie Checklisten, Empfehlungen, Videos und interaktive Schulungsmodule vor, die u. a. Fachkräfte dabei unterstützen sollen, neurodivergente Jugendliche besser zu verstehen und in ihre Arbeit einzubeziehen. Zusätzlich ist die Beteiligung neurodivergenter Jugendlicher am Projekt selbst – etwa in Form von Podcasts oder Videostatements – zentrales Anliegen. Ziel ist die Förderung eines inklusiven Umfelds für Jugendliche wie auch Fachkräfte.

Die Präsentation finden Sie rechts im Downloadbereich.

Einblick in die Praxis: Trebecafé, Maria Peixoto

Maria Peixoto, Teamleiterin des TrebeCafés der Diakonie Düsseldorf und ebenso Mitglied des Fachbeirats M*SA, schilderte in einem zweiten Input den Alltag ihrer Arbeit mit jungen wohnungslosen Frauen. Viele der Besucherinnen seien verdeckt obdachlos und befänden sich in prekären Lebensverhältnissen zwischen Elternhaus, Jugendhilfe, Straße und kurzfristigen privaten Unterkünften. Die Einrichtung arbeitet traumasensibel und ohne Zwang – Unterstützung ist anonym und freiwillig. Neurodivergenz sei bei vielen Besucherinnen präsent, bleibe jedoch häufig unerkannt oder werde nicht offen kommuniziert.

Peixoto erläuterte, wie individuell ausgerichtet das Team des TrebeCafés auf die Bedürfnisse jeder einzelnen jungen Frau eingeht, ohne Anpassungsdruck auszuüben. Die Einrichtung verfolgt das Prinzip, dass alle Entscheidungen der Besucherinnen als legitimer Ausdruck eines selbstbestimmten Lebensentwurfs angesehen werden. Dabei wird auf Vertrauen, niedrigschwellige Angebote und flexible Unterstützungsformen gesetzt, um Kontakt und Stabilität aufzubauen – auch bei neurodivergenten Mädchen* mit komplexen Problemlagen.

Den Bericht finden Sie ebenso im Downloadbereich.

Persönliche Perspektive

In einem dritten Input-Beitrag gab Vera Mayr, BAG EJSA-Referentin für Digitalisierung und Online-Beratung (jmd digital-hub), persönliche Einblicke. Sie schilderte ihren eigenen Weg zur ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter – erst mit 27 Jahren. Sie berichtete, wie sie vorher mit Symptomen umging, welche Veränderungen Diagnose und Medikation brachten und welche Strategien ihr heute im Berufsalltag helfen. Ihre Reflexionen beleuchteten auch, wie neurodivergente Personen in Arbeitskontexten Unterstützung erfahren können – etwa durch transparente Kommunikation, Rücksichtnahme auf Reizempfindlichkeit und individuell angepasste Strukturen.

Fachaustausch

Der abschließende offene Austausch mit Teilnehmenden zeigte: Viele Fachkräfte, Eltern und Betroffene erleben sowohl im Bildungssystem als auch in medizinischen Strukturen erhebliche Hürden im Umgang mit Neurodiversität – insbesondere mit Blick auf Mädchen* und junge Frauen*. Die Diskussionen umfassten u. a.:

  • Mangel an frühzeitiger und geschlechtersensibler Diagnostik
  • Stigmatisierung durch medizinische oder schulische Institutionen
  • Hindernisse beim Zugang zu adäquaten Therapien oder Förderangeboten
  • Mangel an Daten zur Betroffenheit von FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, Inter* Personen, Nicht-binäre Personen, Trans* Personen und Agender Personen) im neurodiversen Spektrum.

Thematisiert wurden auch die Begriffe „Masking“ (das bewusste oder unbewusste Verbergen neurodivergenter Verhaltensweisen) und „Meltdown“ (starker Überlastungsausbruch), die in pädagogischen Settings oft missverstanden und fälschlich als willentliches Fehlverhalten interpretiert werden. Hier brauche es Wissen, Prävention und sensible Reaktion statt Bestrafung oder Normierung.

Am Ende der Veranstaltung waren sich die Teilnehmenden einig mit Blick auf die Bedeutung individueller Unterstützungsstrategien, einer systemisch-intersektionalen Sichtweise und der Entwicklung evidenzbasierter Handlungsempfehlungen unter aktiver Beteiligung neurodivergenter Menschen. 
Das EU-Projekt „NeuroDiversity from a Female Perspective“ sowie der Kacheltalk wurden als wichtige Auftakte bewertet – für das weitere Sammeln und Zusammentragen von Daten und Erfahrungswerten, für Vernetzung, weitere Veranstaltungen und letztlich auch eine stärkere strukturelle Verankerung des Themas Neurodiversität in der Jugendsozialarbeit.